Schönwerths Märchen -
Bedeutung Heute

Interview mit Erika Eichenseer

Was zeichnet die Märchen von Franz Xaver Schönwerth aus?
Sie sind weitgehend unbekannt, deshalb umso interessanter.
Sie folgen nicht Stereotypen: statt einfältiger, nur schön-schöner  Prinzessinnen erscheinen tapfere Frauen, Kämpferinnen, Heldinnen „voll Wildheit und Energie“, statt heldenhafter Haudegen finden wir verletzliche junge Männer, die sich verantwortungsvoll ihren Aufgaben stellen.

Wie viele Märchen haben Sie schon gesammelt und in welchem Zeitraum?
Schönwerth hat gesammelt, nicht ich. Bei ihm und seinen Sammlerfreunden handelt es sich um echte mündliche Befragung von Menschen aus der Region, mühsame Aufzeichnung aus den meist in nordbayerischem Dialekt erzählten Geschichten, Übertragung ins Schriftdeutsche, Korrekturen der Fehlstellen usw. Es ist eine Verschriftlichung der mündlich erzählten Märchen entstanden in der Sprache, Manier und dem Geschmack des 19. Jahrhunderts.
Sprache verändert sich, heute erzähle und schreibe ich in einer anderen Sprache, anderer Manier, und so entstehen zeitgenössische Sprachwerke auf der Basis der alten Geschichten in engem Zusammenhang mit den Originalen.

Was bewirken Schönwerths Märchen bei Ihren Zuhörern?
Ich kann es nicht anders sagen: ganz gleich, wie alt, gebildet, klug mein Auditorium ist, die Aufmerksamkeit ist immer 100%, die Umgebung versinkt, Bilder entstehen, sie gehen die Wege mit den Protagonisten mit allen Gefahren und Glücksmomenten. Eine wunderbare Erfahrung, wie gegenwärtig die Kraft der Märchen auch heute noch ist.

Sind das nur Märchen für Erwachsene oder können auch Kinder etwas damit anfangen?
Für mich ist die Kombination von Märchen und Kindern in dieser Ausschließlichkeit einfach falsch. Einfache Geschichten für die Kleinen sind sehr dünn gesät, Schulkinder erfassen nur eine gewisse Bewußtseinsschicht. Bei der Pubertät beginnt es interessant zu werden, wenn sich Körper und Seele und Geist verändern – müssen. Viele Mütter wiederholen den alten Vorwurf der Grausamkeit in den Märchen ohne nachzudenken, dass diese Vorgänge Bilder sein könnten, die junge Leute durchaus lesen können, Erwachsene nicht mehr.
Das ist das Wunder der Märchen, dass sie tiefenpsychologisch so reich und fein gezeichnet sind, dass sie Hilfe geben können, wenn aus Kindern Erwachsene werden, dass am Ende alle Herausforderungen dazu führen, dass der junge Mensch Erfahrungen sammelt, die ihn in seinem zukünftigen Leben stark, glaubwürdig, ja weise machen.

Wie viel Oberpfälzer Mentalität ist in den Märchen zu spüren und wie würden Sie diese Mentalität beschreiben? Was kommt in den Märchen besonders zur Geltung?
Am meisten Oberpfälzisches kommt in den Schwänken heraus, wo Bauernschläue und gesunder Menschenverstand, gepaart mit einer gehörigen Portion Humor die Geschicke leiten.
In den Petrusgeschichten, diesen archaischen, skurrilen Wanderungen des Herrn Jesus, dem Gott, der alles sieht, versteht, verzeiht, und dem oberpfälzischen Bauern als Petrus, der so gerne isst, trinkt, musiziert, rauft. Diese ungleichen Brüder spiegeln die Mentalität der Region in messerscharfer Manier wider. Ein besonderes Vergnügen, diese winzigen Geschichten zu lesen  

Was hat Sie auf die Idee gebracht, zunächst die Schauermärchen und nun die Liebesmärchen zusammenzufassen?
Michael Volk vom gleichnamigen Verlag hat den Wunsch geäußert, die dunkle Jahreszeit 2017 mit Schauergeschichten anzureichern. Gerne habe ich diesem Wunsch entsprochen.
Auch die Liebesmärchen sind „Auftragsarbeit“, vom Verlag zuverlässig und mit feinem Gespür begleitet.

Wie sind Sie vorgegangen? War die Auswahl groß oder überschaubar?
Ich habe in den vielen Jahren meiner Beschäftigung mit Schönwerth einen großen Fundus an erzählbaren Märchen angesammelt. Sie und die Stichwortsuche in den Aufzeichnungen des Marburger Zentralarchivs haben mir das nötige Material geliefert. Ein schier unerschöpflicher Schatz!

Zu den Liebesmärchen: Würden Sie Schönwerth als Romantiker bezeichnen?
Nein, er war Forscher und Sammler und immer auf die Authentizität der Quellen bedacht:
„Was ich nun in vorliegendem Werke biete, behandelt lediglich das Stillleben. Ich habe es vom Munde des Volkes weg geschrieben und mich bemüht, die natürliche Einfachheit in seinen Mittheilungen beyzubehalten. Nicht im Bauernkittel, aber auch nicht in Ballhandschuhen, sondern im ländlichen Sonntagsstaate soll erscheinen, wie das Volk denkt und spricht.“ (Zitat aus Sitten und Sagen Bd.1)
Vielleicht könnte man die Legenden als romantisch religiös überhöht bezeichnen, wenn vielleicht fromme Priester die ursprünglichen Märchen zur Katholisierung der „Heiden“ verändert haben. Das war aber lange vor den Aufzeichnungen von Schönwerth.

Was charakterisiert Schönwerths Liebesmärchen?
Dass den jungen Frauen eine mutige, tragende Rolle zugedacht ist, dass Mädchen durchaus klug Geschicke lenken können, dass die Männer dem praktischen Verstand der Frauen nachgeben, dass das Leben in einer achtungsvollen Zweisamkeit zum Glück führt, das viele Jahre dauert.
Wie haben Sie die Originale bearbeitet? Mussten Sie völlig neu formulieren?
Was war Ihnen dabei wichtig?

Ich habe die Originale so bearbeitet, wie ich sie mündlich erzählen würde, d.h.: ich habe die Zeitebenen verschoben, so dass sich die normale Erlebnisebene von den zauberischen Veränderungen abhebt. Dabei spielen Tempo und Tonfall eine große Rolle.
Ich habe zu lange Passagen gerafft und zu kurze logisch verlängert. Man muss sich die einfachen Leute vorstellen, die diese Geschichten aus der Erinnerung geholt haben, manches vergessen, manches verdreht oder ausgelassen haben. Ein Märchen muss alle Inhaltsbezüge lösen, sonst ist der Hörer nicht zufrieden.
Eine große Hilfe war dabei die redaktionelle Beraterin des Verlags in der Person von Martina Dolhaniuk. Ich habe ihr die doppelten Texte geschickt: Original und Bearbeitung, und sie hat mit feinem Gespür die größere Bildhaftigkeit aus den beiden Versionen herausgefunden.

Wie ging die Auswahl bei den Schauermärchen vonstatten?
Ohne Bedenken haben wir die Gänsehaut-Passagen belassen, nicht entschärft. Diese Geschichten leben von den Ungeheuerlichkeiten, und die Leser wollen sich doch gruseln, oder?

Der dritte Band soll von Waldmärchen handeln. Wann wird er erscheinen? Was kann man sich darunter vorstellen?
Dieser Band ist in der Grobsammlung bereits fertig, d.h. ich habe ca. 40 Märchen ausgewählt, die dann noch einer strengen Prüfung unterzogen werden, um auf 30 gedruckte Geschichten zu schrumpfen. Der Band „Der singende Baum“ soll noch in diesem Jahr 2018 erscheinen.

Schönwerth schreibt in seinem ersten Band „Sitten und Sagen“ 1857: „Außerdem leidet die Oberpfalz empfindlichst an den Folgen des Vandalismus, mit welchem man vor fünfzig Jahren gegen alles was Wald hieß, zu Felde zog. Kultur war das Losungswort. Heut zu Tage scheint man durch ganz Deutschland einen förmlichen Kreuzzug gegen das Wasser in Teich und Weiher und See zu organisieren: die Folgen werden noch fühlbarer werden.“

Nichts straft sich schneller, als Sünde wider die Natur."
Kann man die Sorge um die Natur noch deutlicher ausdrücken? Das war vor 160 Jahren schon die Beobachtung eines aufmerksamen Zeitgenossen. Hat sich etwas verändert? Verbessert? Viele der Schönwerth’schen Märchen spielen im Wald, doch ist es hier nicht der drohende, verschlingende Wald, in dem menschenfressende Wölfe ihr Unwesen treiben, sondern der beschützende Freund, in dem zauberische Wesen weben: die gutartigen Holzfräulein, das goldene Hirschlein, die Zwerge, die bei Untaten ganz schön garstig werden können.

Welche Bedeutung haben Märchen – für Kinder? Für Erwachsene?
An der lang anhaltenden Welle der Fantasy-Produktionen, sei es als Buch oder Film zeigt
sich das ungebrochene Interesse der Menschen an diesen fantastischen Geschichten.
Ich bevorzuge die Urfassung ohne Aufgeilung und Reizüberflutung. Kinder lieben Märchen, und es gibt immer noch Familien, in denen am Abend vor dem Einschlafen Geschichten erzählt werden. Erzählt!
Die Erwachsenen sind eigentlich immer, wenn man gut erzählt, Kind genug, die Märchen aufzusaugen. Wie war es denn im Orient? Märchen waren Männergeschichten, die in den Karawansereien erzählt wurden, voll von Duft, Schönheit und erotischen Reizen. Wir haben sie auch. Warum sollten wir sie nicht erzählen? Sie sind ein Bündel aus Realität und Phantasie, aus Gefahr und Erlösung, aus Probe und Erfahrung. Und die Menschen sind dankbar für diese Botschaften.

Macht es einen Unterschied, ob Märchen erzählt oder vorgelesen werden?
Was ist „besser“?

Erzählen ist die älteste Form der Gedankenvermittlung. Es schafft eine Gemeinschaft zwischen Erzähler und Hörer, eine zwischenmenschliche Beziehung, eine Nähe, eine Art Verbrüderung, die über die aufmerksamen Augen und Ohren geht, über den Blick des Erzählers für etwa Unverständliches oder Bedrohliches. Wenn ich diese Beziehung durch ein Buch durchschneide, ist meist der Reiz weg, Kinder beginnen zu rutschen, Ältere widmen sich anderen Dingen usw. Beim Erzählen kann ich raffen oder dehnen, erklären oder augenzwinkernd Verständnis bezeugen… Erzählen ist viel mehr als Vorlesen!

Was ist Ihr liebstes Märchen von Schönwerth?
Eigentlich liebe ich sie alle, denn sie haben alle ihren eigenen Reiz. Ich liebe die Mythen, die Geschichten um Sonne und Mond und die Naturgewalten, die unzähligen hilfreichen Taten der Holzfräulein, die prunkvollen Zaubermärchen…

Welches Märchen aus der großen Auswahl von den Gebrüdern Grimm, Andersen, Hauff Märchen mögen Sie am liebsten?
Seit ich mich so intensiv mit Schönwerth beschäftige, sind alle anderen Märchenautoren blass geworden. Ich mag die verstümmelten Märchen nicht mehr, die auf Kinderverhältnisse heruntergeschnitten wurden. Kunstmärchen sind für mich als Sprachkunst nachvollziehbar, aber mir sind die authentischen, alten Märchen lieber.

Was lieben Sie persönlich an Märchen?
Ich liebe ihre Wildheit, ihre phantasiereichen Wege, ihre Probleme, die ja eigentlich die Probleme der Menschheit sind, und deren Lösungen, die auch wieder ein archetypisches Muster über alle Zeitgrenzen hinweg sind.

Bitte erzählen Sie eine kleine Geschichte in Zusammenhang mit Märchen (Schönwerth),die die große Bedeutung der Märchen für die Seele des Menschen darstellt.
„In einem alten Buchenwalde standen zwei riesige Buchen nebeneinander. Es war Abend, und traurig hing die eine die Zweige, weshalb die Nachbarin fragte, was sie habe, dass sie das Haupt so senke. Jene aber erzählte, dass gestern der Förster hier gewesen sei und sie morgen zum Fällen bestimmt habe: sie werde nun bald das Leben lassen. „Wehe mir, erwiderte die Nachbarin, da wirst du auch mich im Falle verletzen!  Die erste schwieg, noch mehr betrübt durch diesen Ausbruch der Selbstsucht. Am andern Tage aber kam der Förster mit dem Herrn des Waldes, und beide fingen darüber zu streiten an, welche von den zwei schönen Buchen gefällt werden solle. Da beugten sich die Bäume seufzend hin und her. „Wer hat geseufzt?“ rief der Herr. Es war aber niemand da, der Antwort gab. Furcht trieb die Förster von dannen, und die herrlichen Bäume blieben verschont.“ Aus Neuenhammer.

Siehe auch: BR 2 Heimat: Interview mit Erika Eichenseer