Schönwerths Märchen ans Licht gebracht

Vorwort – Prinz Roßwifl

„Zieh doch den rostigen Nagel“

Erika Eichenseer


So einfach ist das im Märchen. Etwas Verstecktes, Verzaubertes, Schönes kann mit Hilfe eines rostigen Nagels zurückverwandelt, dem bösen Zauber entrissen, dem Leben wieder geschenkt werden. Wer gibt uns im wirklichen Leben diesen Nagel, der uns aus allen Schwierigkeiten erlöst?

Weggezaubert, versteckt waren scheinbar die Märchen aus der Oberpfalz. Sagen kannte man aus „Sitten und Sagen,“ veröffentlicht 1857, 1858 und 1859 in drei Bänden von Franz Xaver von Schönwerth. Doch wo blieben die Märchen?

Auf meine, seit etwa 1970 wiederkehrende Frage nach Märchen aus der Oberpfalz erntete ich selbst bei Fachleuten nur ein verständnisloses Achselzucken und das Gefühl, nach etwas Dummes gefragt zu haben. Bis 2009 musst es dauern, bis ich die erleichternde Gewissheit hatte, dass im Nachlass Schönwerths beim Historischen Verein für Oberpfalz und Regensburg im Stadtarchiv Regensburg noch mindestens 500 Märchen schlummern. Doch wer kannte der befreiende Zauberspruch? Wer konnte sie aus der Verbannung in 30 Pappschachteln befreien?

Schönwerth fühlte sich als „der Bergmann, der die Erze der Tiefe zutage fördere, die Hüttenmeister mögen das Metall daraus gewinnen“, wie er in einem Brief an Prof. E. L. Rochholz vom 15 August 1859 schrieb.

Auch ich fühlte mich wie so ein Hüttenmeister. Der rostige Nagel war aus der Wand gezogen, und die hässliche Alte hatte sich zur jungen, bezaubernden Prinzessin verwandelt. Aus den vielen handgeschriebenen Seiten schälte sich „der Krystall, auf dessen Boden die Märlein blühen und schimmern,“ wie Michael Rath, der umfassend gebildete und jedoch so volksnahe Schwiegervater Schönwerths, an seinen lieben Schwiegersohn am 24. November 1854 in Neuenhammer in höchster Anerkennung geschrieben hat.

Besonders malerisch leuchten die Märchen auf, wenn sie in der Mundart überliefert sind

Dieser Ort in der nördlichen Oberpfalz hatte sich zum Zentrum für Schönwerths Sammeltätigkeit entwickelt, die zunächst aus Fragebögen bestand, dann aus eigener Feldforschung in der Oberpfalz und bei Oberpfälzern in München, schließlich aus den Aufzeichnungen begeisterter Helfer wie Michael Rath, Pfarrer Andreas Riedl, Kaplan Johann Baptist Weber, dessen Base Doris, Schönwerths Frau Maria, geb. Rath, und dem oft genannten, aber nicht näher bezeichneten “Katherl”, wahrscheinlich sich über die ganze Oberpfalz, vorzugsweise und vermehrt aber am östlichen Grenzstreifen zum Böhmerwald hin: Oberbernried, Tirschenreuth, Neukirchen zu St. Christoph, Wondreb, Bärnau, Konnersreuth, Tiefenbach und andere Orte.

Bildungsstand, soziale Zugehörigkeit und Beruf der Gewährspersonen wie der Sammler waren natürlich unterschiedlich, und so finden sich in den handschriftlichen Belegen sprachlich versierten oder romantisch verklärten Texten (z.B. „Das weiße Reh“) auch weniger wortreiche, ja brüchige Vorlagen, vom Inhalt her aber nicht weniger wertvoll (Z.B. „Die schönen Sklavin“). Besonders malerisch leuchten die Märchen auf, wenn sie in der Mundart überliefert sind (z.B. „Hahnerl und Hennerl“, „Der goldene Knopf“). Einige typische Beispiele sollen das farbenfrohe Sprachspektakel fühlbar machen, auch wenn sie zugegebenermaßen schwer lesbar sind. Sogar Kunstmärchen sind hier anzutreffen, wie „Der Rabe mit dem silbernen Schnabel“, „Anna Mayala“ oder „Der Natternbrunn“.

Interessant und notwendig erschien es mir auch, Varianten von motivgleichen bekannten Texten aufzuzeigen wie bei der „Schneider und der Riese“ und „Das Tapfere Schneiderlein“„oder “Hans mit der Löwin“ und „Das starke Band“, „Zwerg Gungerl“ oder „Winterkürberl“ und „Rumpelstilzchen“, „Die wandernden Tiere“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“.

Die Fülle des neuen Materials zwang mich zur sorgfältigen Auswahl. Neben den etwa 100 hier abgedruckten unbekannten schönsten Märchen aus dem Nachlass sollten die beste, in Schönwerths „Sitten und Sagen“, in Winkler / Schönwerth oder anderswo bereits veröffentlichten Texte nicht fehlen. Die Auswahl erfolgte nach Qualität und nicht nach Regionen oder Orten.

Schönwerth selbst hat Sagen, Märchen, Legenden und Schwänke nicht exakt unterschieden

Besondere Behutsamkeit und Vorsicht ließ ich bei der sprachlichen Behandlung walten. Grundsätzlich wurde die überlieferte Erzählform, insbesondere der Dialekt, original beibehalten. Lediglich da und dort wurden die Texte etwas gestrafft, die alte Rechtschrift modernisiert. Dagegen behielt ich den ursprünglichen bewusst bei. Mit Hilfe der von Nicola Paulsen sorgfältig erstellten Anmerkungen ist es jederzeit möglich, die einzelne Erzählungen im Original sowie im Kontext der europäischen Erzählkultur zu suchen und zu vergleichen.

Schönwerth selbst hat Sagen, Märchen, Legenden und Schwänke nicht exakt unterschieden, vielmehr haben er und seine Sammler allgemein „Geschichten“ aufgezeichnet , so wie sie ihnen die einfachen Leute erzählt haben. „Märlein“ nennt er die Erzählungen dann, wenn nach der immer sehr genauen Beschreibung der Sagenfiguren wie Holzfräulein, Wasserfrauen, Hexen oder Teufel und einigen ortsgebundenen Berichten der märchenhaften Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt sind und die herben Sagengestalten in der bunten oberpfälzischen Märchenwelt auftauchen.

Legenden werden normalerweise nicht den Märchen zugeordnet. Doch Inhalte und Züge dieser Geschichten sind eindeutig märchenhaft. Vielleicht liegen ihnen auch ältere Erzählungen zugrunde, die von frommen Pfarrern aus religiösem Eifer zu Legenden umgeformt wurden. Diese Botschaften verstanden die einfachen Menschen und verstehen sie auch heute noch in ihre klaren Aussage. Innerhalb der Legenden erscheint ein besonderer Erzähltyp ungemein auf, weil sie das Menschliche im Menschen gelten lassen.

Nachdem Schönwerth oft keine eigenen Titel zu den Geschichten angegeben hat, sondern ehe Märchengruppen (s.a. Aarne-Thompson-Uther = A.T.U.) oder gar nur Nummerierungen, wie bei den Wasserfräulein-Märchen, suchte ich neue Titel aus dem Text (mit * bezeichnet), die den Überblick erleichtern und den Leser neugierig machen sollen.

Der Mistkäfer, unscheinbar und oft gehöhnt, verbirgt das Kostbarste, was er hat, nämlich sein Ei

Der Buchtitel gestaltete sich als besondere Herausforderung. Er sollte auf Märchenhaftes aus einer altbairischen Region verweisen, durch den unbekannten Begriff neugierig machen und die Tiefe der angebotenen Märchen ahnen lasse. So wurde der verzauberte Roßwifl zum Titelhelden. Der Mistkäfer, unscheinbar und oft gehöhnt, verbirgt das Kostbarste, was er hat, nämlich sein Ei, in der Mitte einer schützenden, wärmenden Kugel aus Unrat, die er so lange mit Hingabe dreht, bis die Frucht reif ist. Mit dieser Deutung wird auch klar, dass dieses Buch nicht in erster Linie Kinder anspricht, sondern vielmehr die jugendlichen Menschen, die das Tor zur Erwachsenenwelt durchschreiten müssen. Angst und Schmerzen sind ihre Begleiter, doch immer endet die tod-gleiche Fahrt durch den verzauberten Wald in einem Zitronenhain oder Paradiesgarte, wo man allerdings auch noch Gefahren bestehen und Erfahrungen sammeln muss, bevor einen das Erwachsenenleben endgültig vereinnahmt.

Ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Persönlichkeiten und Institutionen wäre die Veröffentlichung dieses Märchenbuches nicht möglich gewesen. So danke ich in erster Linie Harald Fähnrich, Prof. Siegfried Becker (Phillips-Universität Marburg), Dr. Sigfrid Wagner (Museum Naumburg), Professor Daniel Drascek, Dr. Helmut Groschwitz und Nicola Paulson (Universität Regensburg) sowei Dr. Martin Dallmeier (Historischer Verein für Regensburg und Oberpfalz) und Dr. Heinrich Wanderwitz (Stadtarchiv Regensburg) und nicht zuletzt der Franz Xaver von Schönwerth-Gesellschaft für den Auftrag zur Veröffentlichung.

Bei der Auswahl der Märchen standen mir Elfriede Gazis, Edda Preißl, Eva Schuler, Julia Weigl und Hugo Meyer zur Seite. Ihr kompetenter Ratschlag erleichterte mir die Auswahl wesentlich. Dafür aufrichtigen Dank!

Der Illustratorin Barbara Stefan zolle ich höchste Anerkennung für ihre feinen, eindrucksvollen Zeichnungen, die der kargen Sprache Schönwerths entgegenkommen.

Dieses Buch will eine Lücke in der Märchenlandschaft der Oberpfalz schließen

Zu ganz besonderem Dank verpflichtet fühle ich mich den finanziellen Förderern gegenüber, an erster Stelle E.ON Bayern, dem Partner des Schönwerth-Jahres 2010, aber auch den weiteren Sponsoren: dem Bezirk Oberpfalz, dem Sparkassenverband Bayern und der Ernst Pietsch-Stiftung.

Dieses Buch will eine Lücke in der Märchenlandschaft der Oberpfalz schließen und junge wie ältere Leser ansprechen. Darüber hinaus ergeht der dringende Aufruf an die Forschung, die einmal aufgestoßene Tür weiter zu öffnen, das heißt diesen Ausschnitt aus dem einmaligen Fundus des einzelnen, ja einsamen Sammlers und Forschers zu bearbeiten, auszuwerten und zu würdigen. Für die Praxis wäre es wünschenswert, wenn die uralte Kunst des Geschichten-Erzählens wieder aufgenommen würde. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie dankbar die zuhörer aller Alters- und Bildungsstufen für das gesprochene Wort sind.

„Nirgendwo in ganz Deutschland ist umsichtiger, voller und mit so leisem Gehör gesammelt worden.“ Verstehen wir diesen Ausspruch Jakob Grimms 1858 nicht nur als persönliche Auszeichnung und Anerkennung für Schönwerths Werk, sondern auch als Aufforderung und Verpflichtung für uns alle, die wichtige Botschaft von beseelter Natur und zauberhaften Geschöpfen zu hören und das Wunderbare mit dem Natürlichen zu verschmelzen.

„Die Welt ohne Märchen und Mythen bliebe klanglos wie ein Leben ohne Musik.“
(Georg Trakl)

Erika Eichenseer

in: Franz Xaver von Schönwerth: Prinz Roßzwifl und andere Märchen. Ans Licht gebracht von Erika Eichenseer. Regensburg 2010. ISBN: 978-3-937527-32-1