Im Rachen des Wassermanns

(Text in Originallänge, nur wenig an die heutige Sprache von Erika Eichenseer angepasst)

In einem Dorf an einem großen Wasser gab es einmal so viele schöne Mädchen, dass alle Welt Freude daran hatte, und sie wurden immer schöner, je öfter sie vom Baden im Weiher heimkehrten.

Das hörten die Mädchen aus anderen Orten. Sie zogen aus allen Gegenden herbei und nahmen ein Bad im Wasser. Da sie aber sehr garstig waren und auch nicht so lange unter dem Wasser bleiben konnten wie die Mädchen des Dorfes, wurden sie nicht schöner - ja, viele ertranken sogar.

Nun blieben die fremden Mädchen zwar aus, dafür aber meldeten sich Freier aus allen vier Himmelsgegenden.

Es geht nicht lange und an einem bestimmten Tag halten sie alle gemeinsam Hochzeit. Sie feiern ein großes Fest mit ihren schmuck gekleideten Burschen, den Bräutigamen von nah und fern, und tanzen bis tief in die Nacht.

Aber gegen den darauffolgenden Morgen hin dringt so ein fürchterlicher Lärm aus den Brauthäusern, dass alle Bewohner des Dorfes noch im Finstern zusammenlaufen. Was sehen sie? Jeder Bräutigam zieht seine Braut an den Haaren aus dem Haus, stößt sie von sich und schlägt sie sogar, bis er keine Kraft mehr hat. Dann rennt ein jeder von ihnen davon.

Es hat sich in der Nacht herausgestellt, dass die Mädchen keine rechten Frauen waren, sie hatten einen schuppigen Fischschwanz!

Der Richter muss nun mit seinen Knechten kommen und das Unglück begutachten. Er schaut und befiehlt dann, einen Scheiterhaufen zu errichten, um auf diesem die Fischweiber allesamt zu verbrennen. Als die Flammen schon hoch lodern, schlägt das Wasser im Dorfteich auf einmal hohe Wellen und es reckt sich ein ungeheuer großer Kopf daraus hervor, der speit Wasser wie ein Walfisch und löscht damit das Feuer.

Die Bräute aber gehen auf dem dicken Wasserbogen wie auf einer Brücke vom Scheiterhaufen hinüber ans Wasser und in den Rachen des Wassermannes hinein wie in ein großes Tor - und sind gerettet.

Seitdem haben keine Mädchen mehr in diesem Wasser gebadet. 

Neuenhammer SSO II, S.  177