Die goldene Schuppe

(Text in Originallänge, nur wenig an die heutige Sprache von Erika Eichenseer angepasst)

Ein heimatloser Junge diente einem Grafen in den Bergen als Hirt. Eines Tages schlich er sich in den Schlossgarten und kam zu einem Brunnen. Da sah er im Sonnenlicht etwas Glänzendes schwimmen und nahm es heimlich an sich.

Im Winkel des Stalls hält er seinen Fund unter den Kienspan: Es ist eine kleine goldige Fischschuppe. Er wiegt sie in der Hand, biegt und reibt das schimmernde Ding, damit es noch blanker werde. Da steht auf einmal die junge Burgfrau vor ihm.

Erschrocken wirft er sich ihr zu Füßen, denn sie ist gar zu schön und stolz und hat ihn noch nie eines Blickes gewürdigt. Jetzt aber hebt sie das Kienlicht in die Höhe, schaut ihn an und streicht ihm seine wilden Haare aus der Stirn.

„Du bist ein schöner Jüngling!", sagt sie und lächelt ihn an. „Du wärst mir lieber als der alte Graf, mein Gemahl!" Der hat die beiden belauscht. Grimmig fährt er herbei, packt den Buben und wirft ihn kurzerhand den Felsen hinunter bis zum Fuß des Bergs. Wem das geschieht, der vergisst das Aufstehen für immer bis zum Jüngsten Tag.

Der Hirt aber fällt unten in einen merkwürdigen weichen Teich, wo sonst noch nie Wasser gewesen ist, und springt wohlbehalten davon.

Eben kam ein Einsiedler des Wegs, der einen schweren Sack schleppte. „Geh, hilf mir doch den schweren Brotsack in meine Hütte tragen!", sagte er freundlich zu dem Jungen. Der hatte ein gutes Herz, half dem Klausner und blieb bei ihm fortan.

Einmal hat der Knabe Langeweile, zieht seine goldene Schuppe hervor und will sie sachte glänzend reiben. Plötzlich steht wieder die junge Burgfrau vor ihm und lächelt ihm gar hold zu.

„Bitte geh fort von hier!", fleht er sie an und zittert vor Angst wie Espenlaub. „Es ist mir übel ergangen, als ich dich zuletzt sah. Ein zweites Mal wird es noch ärger zugehen!" Sie aber schmeichelt ihm. „Mein Schatz, hab‘ keine Angst, ich werde ganz dir gehören, wenn du mir ein Pfand gibst."

Jetzt aber merkt der Junge, was für einen Fund er einst im Brunnen getan hat; den darf er der Gräfin nicht überlassen. Er möchte ihr wohl etwas anderes geben, doch ist er arm wie eine Kirchenmaus. Da fängt sie an zu seufzen und zu weinen, setzt sich an seine Seite und umschlingt und küsst den Knecht, dass ihm siedend heiß wird. Das Weib berückt ihn so, dass ihm die Sinne schwinden und er nicht mehr weiß, was er tut.

Als er aus diesem Taumel erwacht, ist er wieder allein und meint gerade, es sei alles ein Traum gewesen. Er sucht seine goldene Schuppe, doch sie ist verschwunden und der Verlust belehrt ihn eines anderen.

Da wurde der Knecht vor lauter Liebe und Sehnsucht krank und der Einsiedler pflegte ihn wie seinen eigenen Sohn, bis er wieder gesund wurde.

Doch wich das Bild des schönen Weibes nicht aus dem Herzen des Jungen. Er brütete Tag und Nacht und Gram kam so hart über ihn, dass er dem Einsiedler sein Leid entdeckte.

Der fragte ihn darauf aus über die frühesten Tage seiner Kindheit und nickte dazu nachdenklich. Er meinte, das eigene, lange verloren geglaubte Kind in seinem Knecht gefunden zu haben. Der Einsiedler schwieg aber weiter hiervon, denn er mochte sein eigenes Unglück nicht gestehen; er war der ältere Bruder des Grafen, der durch dessen Zauberkünste einst um all sein Hab und Gut gebracht worden war.

Den Knaben leidet es nun nicht mehr länger im dunklen Wald. Eine seltsame Unruhe zieht ihn fort, es hat ihn „angewindet", sodass er so lange umherirrt, bis er wieder in den Schlossgarten und zum Brunnen gelangt.

Fahles Mondlicht erhellt das Wasser, schüchtern neigt sich der Junge über den Brunnenrand.

Er schaut hinein in die spiegelnde Fläche, da sieht er die Gräfin liegen wie im Bade, ruhig und still mit geschlossenen Augen, als ob sie schliefe, nur ihr schneeweißer Arm bewegt die Wellen und die zarten Finger an der Hand haben anstatt Nägel goldene Schuppen.

Endlich regt sie sich. Sie löst ihren silbernen Gürtel vom Leib und schwingt ihn über sich. Der Junge, der die Gräfin als die Wasserfrau erkannt hat, meint, sie wolle ihm die Schlinge um den Hals werfen und ihn erwürgen. Hastig greift er nach dem Gürtel und rennt, wie von Hunden gehetzt, mit seiner Beute auf langen Umwegen zurück zur Klause, zu seinem Einsiedler.

Als er ankommt, ist es schon Tag geworden und der alte Klausner hat Besuch: Der Graf sitzt bei ihm im vertrauten, versöhnlichen Gespräch.

Wie jener aber den Gürtel in der Hand des Knaben bemerkt, springt er rasend auf. „Ha, der Gürtel der Gräfin!", ruft er voll Zorn und will den Jungen mit dem Schwert durchbohren.

Da stößt der Klausner bebend hervor: „Bruder, halt ein, es ist mein Sohn!"

Das Schwert gleitet dem Grafen aus der Hand. In größter Hast eilt er zurück zu seinem Schloss, zum Brunnen, hinter ihm Bruder und Neffe.

Da sitzen die Meerwölfe und nagen noch an den Knochen der Wasserfrau. Einmal im Jahr musste sie sich baden, um die Fischhaut abzustreifen, die ihr übers Jahr gewachsen war; der Gürtel schützte sie im Bade vor ihren Feinden, den Meerwölfen. Ging er verloren, war sie ausgeliefert.

Der Graf verfiel in Wahnsinn und starb bald; nicht lange darauf folgte ihm sein Bruder in den Tod. So wurde der junge Knecht der Herr der Burg.

Doch auch er wurde nicht vom Glück belohnt; ohne Frau beendete er in Trübsinn sein freudloses Leben.

Lind SSO 2, 22S