Aschenflügel

Einem Wirt war seine Frau gestorben, und weil er seine geliebte kleine Tochter nicht allein lassen wollte, heiratete er wieder. Die Frau bekam selbst zwei Kinder, doch das angeheiratete Mädchen war ihr ein Dorn im Auge. Aschenflügel wurde es genannt, denn es musste die Hirse aus der absichtlich verschütteten Asche lesen, durfte nirgendwo hingehen außer in die Kirche, und wenn der Vater verreiste, bekam es kein Geschenk von ihm, nur die beiden Schwestern. Traurig rief es ihm nach, als er wieder verreiste: "Ach, bring mir doch auch einmal etwas mit!"

Unterwegs erinnerte sich der Vater an die Worte seiner Tochter, da streifte ein Haselnusszweig mit sechs Nüssen seinen Hut. Den nahm er mit und schenkte ihn seiner ältesten Tochter. Als diese für den Vater vom Brunnen Wasser holte, fiel ihr das Nusszweiglein hinein, und sie traute sich fast nicht mehr heim zu gehen. Tatsächlich zeterte die Mutter: "Du taugst zu nichts! Ich hab es schon oft gesagt. Marsch in deine Küche. Du kommst mir nimmer heraus!" Und zu ihrem Mann sagte sie: "Wenn du ihr etwas gebracht hättest für fünfzig Gulden, wäre es auch verloren gewesen, weil sie so dumm ist."

Verzweifelt suchte Aschenflügel wieder den Brunnen auf. Da saß ein Männlein und sagte zu ihr: "Nach deinem Zweiglein brauchst du nicht mehr zu suchen. Aber wenn du in die Kirche gehst, musst du einen Spruch sagen:

Hier steh' ich bei dieser Fru,
gib mir heraus mein' Strümpf und Schuh.
Gib mir heraus das ganze Kleid,
von meinem Vater die schönste Freud.

Bevor sie am Sonntag in die Kirche ging, wusch sich Aschenflügel die Hände in dem Brunnen. Sogleich war aller Schmutz verschwunden und am Brunnenrand lagen ein schönes Kleid, goldene Schuhe und weißseidene Stümpfe. Sie war die schönste Prinzessin, und auf jeder ihrer Schultern saß ein Täubchen. So ging sie in die Kirche. Ihre Stiefschwestern erkannten sie nicht, nur die Täubchen riefen "gru", wenn sie zu der Schönen schauten.
Nach der Kirche ging Aschenflügel schnell zum Brunnen, zog ihre schönen Kleider aus  und die schmutzigen wieder an. Zu Hause wurde von dem schönen Fräulein erzählt, das niemand kannte. Einem fremden Herrn war sie aufgefallen. "Die muss meine Frau werden!" dachte der bei sich und fragte alle Leute nach ihr. Doch niemand kannte sie.

Am nächsten Sonntag war sie nach der Kirche wieder gleich verschwunden. Am dritten Sonntag aber ließ der fremde Herr Vogelleim auf die Kirchenschwelle streichen. Als Aschenflügel darüber ging, blieb einer ihrer Schuhe darin stecken. Sie kümmerte sich aber nicht darum, sondern eilte schnell zum Brunnen und zog wieder ihre schmutzigen Kleider an. Der Herr aber hatte den kleinen Schuh nach Hause getragen. Dann sagte er zu seinem Kutscher: "Spann an! Wir müssen eine schöne Frau holen."
Sie machten in eben dem Wirtshaus Rast, wo Aschenflügel in der Küche arbeitete. Zum Wirt sagte der Fremde: "Er muss recht schöne Töchter haben. Ich möchte eine zur Frau! Wenn einer dieser Schuh passt, ist sie die Richtige." Der Schuh aber passte nicht, die Zehe war zu lang. Kurzerhand schnitt sich die Wirtstochter die Zehe ab, und der Schuh passte. Der Edelmann nahm die Frau mit, doch unterwegs  bellte das Hündlein immerzu: "Wir haben eine zehenlose Frau!" "Kehre sofort um, wir haben die falsche Braut!" rief der Herr. Beim Wirtshaus probierte die andere Tochter den Schuh, doch weil er auch nicht passte, schnitt sie sich die Ferse ab. Unterwegs bellte sein Hündlein wieder: "Das ist die rechte Frau nicht! Wir haben eine fersenlose Frau!" Der Kutscher kehrte gleich um, fuhr zur Wirtin zurück und fuhr sie an: " Es muss noch eine andere da sein." Die Wirtin schrie zornig: "Wir haben sonst keine!" Als der Herr nicht nachließ, ging sie doch und holte Aschenflügel aus der schwarzen Küche. Das Mädchen lief geschwind zum Brunnen und wusch sich Gesicht und Hände. Da kam das Männlein und brachte ihr die schönen Kleider und ihren verlorenen Nusszweig wieder. Dieser war aber zu purem Gold geworden. Aschenflügel steckte ihn an die Brust. Zu Hause gab ihr der Herr den goldenen Schuh, und siehe, er passte genau.

Die Wirtin konnte es vor Zorn nicht ansehen, dass sich Aschenflügel zu so einem schönen Mädchen verwandelt hatte. Da bellte das Hündlein: "Wir haben die rechte Frau!" Der Herr und das schöne Mädchen stiegen ein, die Kutsche fuhr los und kam in einem sehr schönen Schloss an, das dem Fremden gehörte.

Zur Hochzeit wurde auch der Vater geladen, aber die Mutter und die zwei Schwestern durften nicht dabei sein.