Der singende Baum

Ein Schneider, flink und jung, ging durch einen Wald. Da hörte er auf einmal ein liebliches Singen. Nach langem Suchen fand er auf einem grünen Platz einen Baum, von dem das singende Säuseln ausging. Da plagte ihn der Übermut. Er nahm seine Nadel und stach und stach in einem fort in die Rinde, denn er wollte sehen, welche Bewandtnis es mit
dem Baum habe. Die Nadel aber wurde an einer Stelle der Rinde zum Schlüssel, der Baum sprang auf wie ein Tor, verschlang den Schneider und würgte ihn die weite Gurgel hinunter.

Dem Schneider verging Hören und Sehen. Es dauerte aber nicht lange, so kam er zu sich, und er lag in einer Kammer, die glitzerte wie Reif und Kristall. Weinend rollte er sich zusammen, griff aber zuletzt zu seiner Schere und schlug damit ein Loch in die Wand.
Er schlüpfte durch und fiel in eine andre Höhle im Baum, da rührten sich und klirrten überall, auf und zu, Scheren an Scheren.

Der Schneider fürchtete um sein Leben. Die Nadeln hatten ihm den Leib wie ein Sieb zerstochen, und die Scheren hatten sein Gewand zerfetzt. Da fiel ihm noch sein schweres Bügeleisen ein. Damit schlug er sich durch dick und dünn und gelangte wieder glücklich durch die Wand. Er kroch hindurch und fiel hinab, diesmal aber in ein Gesträuch von Hagebutten und Weißdorn. Zu allem Unglück zog auch noch ein Gewitter herauf, das brach los und regnete dicht und schwer lauter Bügeleisen herab.

Der Schneider, braun und blau zerschlagen, entriss sich den Stachelstauden, kroch in einen hohlen Baum und meinte, da um Gottes Willen Ruhe zu bekommen.

Es kamen aber ganze Massen dünner roter Ameisen, die zwickten und zwackten den Schneider jämmerlich, dass er ächzte, nieste, räusperte und spie und am liebsten davongelaufen wäre, hätte ihn draußen der eiserne Regen nicht totgeschlagen. So hüpfte und krächzte und kratzte der Schneider und schwur zu Gott mit heiligen Eiden, nimmermehr einen Ast, geschweige denn einen Baum mutwillig zu schinden, ließe er ihn diesmal am Leben.

Da hörte der Regen auf, der Schneider lief davon und sah zu, dass er aus dem Wald herauskam.

 

In: Prinz Roßzwifl, S. 56 f.