Das Fliegende Kästchen

Ein Schreiner, der im Kerker saß, ließ dem König sagen: „Wenn du mich am Leben lässt, will ich ein Kunststück machen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat!“ Der König, der besondere Kunstwerke liebte, ging auf den Handel ein, und der Schreiner brachte ein Kästchen zum König, setzte sich darauf, da fing es zu brausen an und erhob sich und trug ihn bei einem Fenster hinaus, bei dem andern wieder herein. Darauf ließ der König das Kästchen im Raritätensaal verwahren. Der Schreiner aber wurde frei gelassen.

Der König hatte einen zehnjährigen Sohn, den Kronprinz, der immer rote Stiefel trug, mit denen er all sein Spielzeug zertrat und zertrümmerte. Darüber wurde er sehr zornig und verlangte immer wütender neues Spielzeug zum Zeitvertreib. Weil aber keines mehr zu finden war, boten sie ihm das Kästchen an. Der Prinz hämmerte und stieß daran herum, war offenbar nicht zufrieden, weil es kein Wagen war, und machte schließlich selbst Räder daran. Eine Magd wollte ihm helfen und band eine lange Schnur an das Gefährt, mit dem sie den Wüterich im Zimmer herumzog.

 Kaum sitzt der aber fest, so erheb sich das Kästchen zum offenen Fenster und fliegt, so sehr die Magd auch schreit und an der Schnur zerrt, hinaus, hoch in die Luft und hoppaus auf und davon. Alles rennt zusammen und schreit, Reiter fliegen nach, alles umsonst.

Die Luftfahrt des Kronprinzen dauert lange. Zuletzt vernesselt sich die Schnur seines Gefährts in einem Baumgipfel und das Kästchen hält an. Auf dem Baum ist ein altes Storchennest, da ruht sich der Knabe lange aus, lässt das Kästchen oben – und weil er unten eine hübsche Stadt sieht, steigt er hinunter. Eine Kirche, ein Schulhaus, hübsche Handwerkerhäuser, eine Dorflinde, ein Brunnen – es gefällt ihm hier und der Prinz verweilt ein wenig. Ein Schuster sucht gerade einen Lehrjungen, der Prinz mit den roten Stiefeln nimmt die Arbeit an und bleibt dort viele Jahre.

Eines Tages sitzen die Lehrlinge und Gesellen unter der Linde und erzählen sich die Neuigkeiten. „Wisst ihr’s schon von unserer Prinzessin?“ – „Seit wann haben wir den eine Prinzessin?“ – „Wo soll sie denn sein, diese Prinzessin?“ So reden sie. Einer weiß mehr: „Unser König und die Königinhatten lange Zeit keine Kinder. Da ist ihnen prophezeit worden, dass sie zwar eine Tochter bekommen würden, die aber würde ihnen Schmach bereiten, denn sie würde, wenn sie 15 Jahre alt wäre, dem erstbesten Mann nachrennen, ob königlich oder nicht.“ – „Ja, und jetzt?“ – „Dem Königspaar wurde wirklich eine Tochter geboren. Aus Angst ließ der König einen himmelhohen Turm bauen. Und gestern war ihr 15. Geburtstag.  Gestern hat er sie dort droben eingesperrt und sie weint sich die Augen heraus.“ – „Die arme Prinzessin!“ – „Wie kann man denn da helfen?“ – „Kann man wenigstens hinaufklettern?“ So fliegen die Stimmen durcheinander. Nur unser Schuster-Prinz mit den roten Stiefeln sagt gar nichts, hört aber sehr aufmerksam zu.

Nach Feierabend macht er sich auf, holt sein Kästchen vom Storchennest, setzt sich drauf und steuert geradewegs zum Fenster der Prinzessin. Er klopft an, eine wunderbare weiße Hand macht das Fenster auf, und das schönste junge Mädchen bittet ihn herein. Die Prinzessin ist so froh über den unerwarteten Besucher, dass er lange bleibt, sie plaudern, lachen, und am nächsten Morgen fliegt er ganz glückselig wieder um Turm herunter.

Jeden Tag nach der Arbeit fliegt er nun zu seiner Prinzessin, so lange, bis es einer bemerkt und die beiden beim König verrät. Darüber wird ihr Vater, der König, ganz wild: „Wer ist es? Wie ist sein Name? Wann kommt er, zu welcher Tageszeit oder nur im Schutz der Nacht? Wie kommt er? Der Turm ist doch so hoch!“ Doch keiner kennt den Fremden, keiner weiß Rat, wie er zu fangen ist.

Da lässt der Vater das Fensterbrett mit Vogelleim bestreichen, um das „Vogelmännchen“ zu erwischen, und am nächsten Morgen findet man auf dem Fensterbrett einen angeklebten roten Schuh. Dieser geht auf des Königs Befehl von Hand zu Hand, von Fuß zu Fuß. Die hohe Belohnung, die darauf angesetzt war, den zu finden, dem der Schuh passt, wird nicht eingelöst, der König ist ratlos.

Schließlich kommt der rote Stiefel mit dem Altleder in die Schusterwerkstatt, in der der Prinzenschuster arbeitet. Er zieht ihn an, der Stiefel passt genau, und schon sind die Häscher bereit, ihn ins Gefängnis zu stecken. Er hatte die Falle nicht erkannt.

Die Prinzessin ereilte dasselbe Schicksal. Sie wurde in ein anderes Gefängnis gebracht und genötigt, den Namen ihres Liebsten preiszugeben. „Wenn du uns den Namen sagst, darfst du ihn heiraten. Horch, draußen zimmern sie schon euer Hochzeitsbett!“, versprach der König, ließ aber stattdessen einen Scheiterhaufen rüsten, um beide darauf zu verbrennen. Die Prinzessin weigerte sich, den Namen zu verraten, und so war beider Schicksal besiegelt.

Viel Volk lief zusammen, alles weinte und beklagte das junge unglückliche Paar, das auf dem Holzstoß saß, sich in den Armen hielt und ganz heiter zusah, bis der König selbst den Scheiterhaufen entzündete. Rauch und Feuer prasselte hoch auf, und das Volk schrie auf vor Schmerz.

Da drückt der Schuster auf das verborgene Kästchen unter ihm, es braust auf wie in Flügelpferd durch Rauch und Flammen in die Luft hoch hinauf, und König und Volk haben das Nachsehen.

Das Kästchen mit dem jungen Paar bleibt so lange in der Luft, bis das Feuer erloschen ist, dann schwebt es herunter, direkt vor dem König. „Herr König“, sagt der Schuster mit den roten Stiefeln, „darf ich um die Hand Ihrer Tochter bitten?“ – Voller Zorn schreit der den jungen Mann an: „Wie kannst du es wagen, als Schuster meine Tochter, die Prinzessin zu erbitten?“ – „Herr König, ich bin ein Prinz! Ein Prinz aus fernen Landen. Ich habe mich hier nur als Schuster verdingt, um das Leben kennenzulernen.“

Jetzt waren das Staunen und die Freude groß. Das Volk jubelte  und der König konnte nicht mehr Nein sagen.

Nach einer langen Reise mit dem fliegenden Kästchen kam das junge Paar bei den Eltern des Prinzen an. Sie hatten ihn verloren geglaubt, als er aus dem Fenster geflogen war. Und jetzt war die Freude riesengroß. Ein langer Hochzeitszug schob sich übers Land und als er endlich ankam, wurde eine Hochzeit gefeiert, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte.

Der Prinz mit den roten Stiefeln war jetzt Herr über zwei Königreiche und er lebte mit seiner Prinzessin glücklich bis zu ihrem seligen Ende.