Franz Xaver von Schönwerth (1810-1886) ist vor allem durch sein dreibändiges Werk „Aus der Oberpfalz - Sitten und Sagen" bekannt, das in den Jahren von 1857 bis 1859 im Druck erschienen ist. Kein geringerer als Jacob Grimm (1785-1863) schrieb über diese erste umfassende Sammlung von Erzählungen aus der Oberpfalz „Nirgendwo in ganz Deutschland ist umsichtiger, voller und mit so leisem Gehör gesammelt worden" Das ist ein dickes Lob aus berufenem Munde, das nach wie vor die Basis für die wissenschaftliche Reputation Schönwerths darstellt. Dabei ging Grimms Wertschätzung noch weiter, denn er soll gegenüber dem bayerischen König Maximilian II. (1811-1864) geäußert haben: „Wenn Einer da ist, der mich dereinst ersetzen kann, so ist es Schonwerth" Schönwerth blieb jedoch in München und betrieb von dort aus auch weiterhin seine Forschungen über jenen Landstrich im östlichen Bayern, in dem er aufgewachsen war.
Doch wer ist dieser Franz Xaver von Schönwerth? Visuell ist er nicht fassbar, da wir weder eine Fotografie noch ein gemaltes Bild von ihm besitzen, obwohl sein Vater als gymnasialer Zeichenlehrer für seine Portraits Ansehen genoss. Geboren ist Franz Xaver Schönwerth am 16 Juli 1810 in Amberg, wo er auch aufgewachsen ist und von 1821 bis 1832 das Gymnasium sowie das Lyzeum besucht hat Dadurch wurde ihm eine klassische humanistische Ausbildung zuteil. Doch bezeugen seine Schulhefte auch schon ein starkes Interesse an der bayerischen Geschichte und den germanischen Sprachen, was damals noch keineswegs selbstverständlich war. Zum Studium zog er 1831, mit einundzwanzig Jahren, nach München, wo er sich zunächst für den Besuch der königlichen Bauakademie entschied, um 1835 aber an die Universität zum Studium der Kameral- und Rechtswissenschaften wechselte und 1837 mit der ersten Staatsprüfung abschloss. Nebenbei betrieb er aus Neigung aber auch Sprach- und Geschichtsstudien. Dabei dürfte er vor allem durch die Münchner Vorlesungen von Joseph Görres (1776-1848) einen Zugang zum Kreis der Romantiker gefunden haben.
Den für Schönwerths Forschungen entscheidenden Impuls vermittelte jedoch Phillips (1804-1872), der ihm Jacob Grimms „Deutsche .Mythologie (1835) in die Hände gab. Die Lektüre dieses Werkes scheint einer Initialzündung gleich gekommen zu sein, wie Schönwerth selbst mit folgenden Worten in seinen „Sitten und Sagen" beschreibt: „Seit mir auf der Hochschule Professor Phillips Grimm's Deutsche Mythologie in die Hand gab, geht der Gedanke mit mir, in gleicher Richtung die Oberpfalz, von der nahezu nichts bekannt ist, zu beschauen".
Grimm's Werk hatte Schönwerth die Augen für den Wert der mündlichen Überlieferung der „einfachen" Bevölkerung geöffnet. Dies war ungewöhnlich, denn die meisten Gelehrten seiner Zeit waren der Aufklärung aufgewachsen und missachteten solche Erzählungen als dummes oder gar abergläubisches Geschwätz. Jacob Grimm dagegen versuchte in der „Deutschen Mythologie" darzulegen, dass es sich bei den mündlich tradierten Märchen, Sagen, Sprichwörtern, Wörtern, Bräuchen usw. Überreste aus germanischer Zeit handelt. Fasziniert von der Vorstellung einer germanischen Vergangenheit, die stark verklärt wurde, sollten die Germanen-im Zusammenhang mit dem erwachenden deutschen Nationalbewußtsein des 19. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung gewinnen. Jedoch basiert die Grundannahme der Brüder Grimm und damit auch Schönwerths, dass die von ihnen aus mündlicher Überlieferung aufgezeichneten Erzählungen bis in die germanische Zeit zurückreichen, auf unbewiesenen Kontinuitäts behauptungen und sind wissenschaftlich längst widerlegt. Eindrucksvoll konnte die Erzählforschung in den letzten Jahrzehnten belegen, dass sich viele aus dem Mündlichen aufgezeichnete Erzählungen letztlich doch auf schriftliche Vorlagen zurückführen lassen und die meisten Erzähltypen, aber auch viele Motive historisch gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückreichen. So lassen sich zahlreiche der von den Brüdern Grimm publizierten „Kinder- und Hausmärchen" (1812/15) auf Charles Perrault (1628-1703) und die französische Feenmärchenmode des 17. und 18. Jahrhunderts zurückführen, und diese lassen sich wiederum teilweise weiter nach Italien, zu den frühen Märchensammlungen von Giambattista Basile (um 1575-1632) und Giovan Francesco Straparola (1480-um 1557), zurückverfolgen.
Die moderne Erzählforschung hat deutlich gemacht, wie wandelbar auch schon die Erzählkulturen früherer Zeiten waren, die sich laufend den veränderten Zeitumständen und Vorlieben der Zuhörer unterschiedlichster sozialer Gruppen anzupassen verstanden und wie intensiv dabei die europäischen Erzählkulturen miteinander verflochten waren. Es ist deshalb für ein vertieftes Verständnis der von Schönwerth aufgezeichneten Erzählungen sehr wichtig, den skizzierten geistesgeschichtlichen Kontext und die wissenschaftlichen Annahmen, auf denen die Arbeiten Schönwerths beruhen, möglichst genau zu kennen.
Inspiriert durch die Brüder Grimm trug sich Schönwerth wahrscheinlich schon in den 1840er Jahren mit dem Gedanken, Erzählungen aus der Oberpfalz zu sammeln. Allerdings blieb ihm hierfür kaum Zeit, nachdem er zum Privatsekretär des Kronprinzen Maximilian und 1848 zum königlichen Hofsekretär des nunmehrigen Königs Maximilian II. ernannt worden war. Erst nachdem er 1851 zum Generalsekretär und Ministerialrat am Bayerischen Staatsministerium der Finanzen aufgestiegen war, scheint er sein Forschungsvorhaben ernsthaft angegangen zu haben. Wobei an eine intensive Forschung vor Ort kaum zu denken war. Deshalb begann er in München nach Gewährspersonen aus der Oberpfalz Ausschau zu halten, die er befragen konnte. Wie er dabei vorging, beschreibt er in den „Sitten und Sagen" sehr anschaulich: „Doch ging es hart, da ich mich seit den Jahren, dass ich zusammentrage, darauf beschränken musste, meine Landsleute hier in München aufzusuchen und ein inquisitorisches Verfahren mit ihnen anzustellen. Weiber und Weber der Heimat ließen sich gegen kleine Geschenke und Bewirthung in der Regel gerne herbey, sich als Inquisiten mir gegenüber zu setzen und und wurden ganz mittheilsam, wenn ich der Erste war, in der heimatlichen Mundart zu erzählen. Es erfordert große Uebung, gerade dasjenige, worauf es ankommt, herauszufragen, und an Geduld darf es nicht fehlen. Diese Leute können sich nämlich der Ansicht nicht entschlagen, daß ein Gebildeter unmöglich an eben solchen ‚Dummheiten' Gefallen finde und fassen sogleich Argwohn, daß man sie zum Besten haben wolle."
Doch auch die gebildeten Zeitgenossen begegneten Schönwerths Ansinnen damals mit Ablehnung oder Skepsis, so dass sein versandter Fragebogen in der Oberpfalz kaum Resonanz fand Jedoch ließ sich Schönwerth nicht beirren und stellte selbst weitere Nachforschungen an, wobei durch die Heirat mit Maria Rath (18361905) aus Neuenhammer im Jahre 1856 sicher auch manche Erzählung von ihr in die Sammlung Eingang fand. Zudem erfuhr Schönwerth durch seinen Schwiegervater, den literarisch gebildeten Hammergutsbesitzer Johann Michael Rath (1800-1878), fortan vor Ort eine kräftige Unterstützung.
Im Jahre 1857 war es dann soweit: Der erste Band seiner „Sitten und Sagen" erschien in der Riegerschen Verlags-Buchhandlung in Augsburg im Druck, zwei weitere Bände folgten in den Jahren 1858 und 1859. König Maximilian II, der sich sehr für die Volkskunde seines Landes interessierte und in dieser Hinsicht mit Schönwerth schon als Kronprinz einen intensiven Gedankenaustausch pflegte, brachte seine Wertschätzung gegenüber Schönwerth dadurch zum Ausdruck, dass er ihm für sein Werk 1859 das Ritterkreuz des Verdienstordens der bayerischen Krone und damit den persönlichen Adelstitel verlieh. Auch wenn das Werk nur relativ wenige Käufer fand, erfuhr es in gelehrten Kreisen durchaus Wertschätzung Allen voran Jacob Grimm, der vor allem von der im zweiten Band publizierten Erzählung von „Woud:und Freid" fasziniert war, da hinter den Namen nur unschwer Wodan und Freya auszumachen waren. Grimm hoffte, endlich einen handfesten Beleg dafür gefunden zu haben, dass mündlich tradierte Erzählungen doch bis in die germanische Zeit zurückreichen können, was einige seiner gelehrten Kontrahenten massiv bestritten Doch stammte diese Erzählung aus dem Mund von Schönwerths Ehefrau, und trotz intensivster Nachforschungen konnte er keinen weiteren mündlichen Beleg für diese Erzählung in der Oberpfalz ausfindig machen Dabei hatte er auf Fürsprache Jacob Grimms vom König in den Jahren 1860 und 1861 eigens mehrmonatige Forschungsaufenthalte in der Oberpfalz bewilligt bekommen Eine von Grimm erhoffte vollständigere Fassung von „Woud und Freid" konnte Schönwerth nicht finden, wohl aber eine Fülle anderer Erzählungen, wobei er vor allem an Geschichten (zum Beispiel an den Holzfräulein-Sagen) interessiert war, die ein hohes Alter aufzuweisen schienen Dabei war Schönwerth durchaus nicht nur an Erzählungen interessiert, sondern er registrierte unter anderem auch Bräuche und alltägliche Gepflogenheiten. Durch die unerfolgreichen Nachforschungen bezüglich „Woud und Freid“, den Tod Jacob Grimms: und seines königlichen Gönners in den Jahren 1863 und 1864 in seinem erzählforscherischen Elan gebremst, wandte sich Schönwerth verstärkt sprachwissenschaftlichen Arbeiten und der Sprichwortforschung zu. So erschien 1874 eine umfangreiche Abhandlung über „Sprichwörter des Volkes der Oberpfalz in der Mundart".
Die gewaltige Menge an Erzählungen, die Schönwerth im Verlauf der Jahre gesammelt hatte, harrt jedoch weiterhin der Bearbeitung Wahrscheinlich durch den enttäuschenden Absatz seiner ersten drei Bände der „Sitten und Sagen" bedingt, veröffentlichte er keine weiteren Bände, obwohl er Material für eine ganze Reihe weiterer Bände zusammengetragen hatte. Schönwerth selbst, der am 24. Mai 1886 in München starb, wo er, auf dem Alten Nördlichen Friedhof begraben liegt, kam nicht mehr dazu, das Quellenmaterial systematisch auszuwerten und der Forschung zur Verfügung zu stellen. Der insgesamt 46 Faszikel -umfassende Nachlass ging aus dem Besitz von Maria Schönwerth ging an Historischen Verein für Oberpfalz und Regensburg über und wird im Stadtarchiv Regensburg aufbewahrt. Dieser Nachlass, dessen systematische Erschließung mit Unterstützung des Historischen Vereins soeben begonnen hat, geriet jedoch weitgehend in Vergessenheit.
So sind es bis heute primär die von Schönwerth selbst in den „Sitten und Sagen" publizierten Märchen und Sagen, die sich mit seinem Namen verbinden. Bis in jüngster Zeit wurden die „Sitten und Sagen" oder, einzelne Märchen nachgedruckt Auch aus dem Nachlass wurden sporadisch Märchen publiziert, die jedoch nur eine Ahnung davon vermitteln, was in dem Bestand noch zu entdecken ist Dabei kommt diesem Nachlass für die kulturvergleichende Erzählforschung eine erhebliche Bedeutung zu. Denn wenn man die erwähnten zeittypischen Sammelprämissen berücksichtigt und von den entsprechenden mythologischen Ausdeutungen absieht, so vermittelt der von Schönwerth zusammengetragene Quellenfundus einen vielschichtigen Eindruck von der populären Erzählkultur um die Mitte des 19 Jahrhunderts, bevor sich die agrarisch geprägte Region durch die Industrialisierung und den Prozess der Verstädterung immer starker zu verändern begann. Dies war eine Entwicklung, die Schönwerth von München aus mit Sorge sah und mit zur Dokumentation der Erzählungen motivierte. Zugleich trug er durch seine Sammlungen und Publikationen zur Herausbildung einer regionalen Identität bei. Schönwerth selbst hat einmal in einem undatierten Brief geschrieben: „Der Oberpfälzer liebt seine Heimat [...]”. Ob diese pauschale Einschätzung tatsächlich der Realität seiner Zeit entsprach, mag dahingestellt bleiben Ziemlich sicher spiegelt diese Aussage jedoch Schönwerths eigene Einstellung Es war gerade diese persönliche Leidenschaft, die Schönwerth zu einer gewaltigen Leistung anspornte. So bietet Schönwerths Nachlass, der für das 19 Jahrhundert zu den bedeutendsten Beständen im deutschsprachigen Raum gehört, der kulturhistorischen Erzählforschung, aber auch einer Rezeption durch Liebhaber von Erzählungen spannende Perspektiven. Es ist deshalb ein großes Verdienst von Erika Eichenseer, die sich schon seit vielen Jahren mit Schönwerths Märchen befasst und auf reizende Weise zu erzählen vermag, dass sie mit diesem Märchenbuch eine große Zahl von bisher weitgehend unbekannten Märchen und Erzählungen aus Schönwerths Nachlass zugänglich macht.
Daniel Drascek